
Sind Sie sicher?
Was Sie vom Improvisationstheater für die psychologische Sicherheit in ihrer Organisation lernen können
Autor: Martin A. Ciesielski
Kann es sie überhaupt geben, die angstfreie Organisation? In Zeiten des Klimawandels, des digitalen Wandels, #VUCArona und Co.?
Viele Führungskräfte und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wissen mittlerweile um die Bedeutung des Akronyms VUCA: Wir leben in volatilen, unsicheren, komplexen (complex) und mehrdeutigen (ambiguous) Zeiten. Doch das bedeutet, es geht nicht allein darum, sich und die eigene Organisation durch hochkomplexe Zusammenhänge zu steuern. Die Komplexität ist noch um eine hohe Dynamik, Mehrdeutigkeiten und Unsicherheiten angereichert! Das bedeutet letztendlich, dass wir sogar in chaotischen Zeiten leben! Was kann es Schrecklicheres für eine Organisation geben, die auf Planbarkeiten, Routinen (in gleicher Qualität wiederholbarer Prozesse) und somit Sicherheiten basiert?
Doch das eigentliche Problem ist nicht das Chaos, sondern unsere Vorstellungen davon. Während wir normalerweise Chaos als den Gegensatz von Ordnung und Planbarkeit sehen, möchte ich an dieser Stelle für ein Chaos-Verständnis plädieren, das Chaos als eine höhere Form der Ordnung betrachtet.
Ich erinnere mich noch immer mit großer Freude daran, als ich vor einigen Jahren einen meiner Mitspieler auf der Improvisationstheaterbühne fragte, was er noch so arbeitet. Daraufhin erklärte er mir, dass er als Mathematiker für einen großen Rückversicherer in München tätig ist. Natürlich wurde ich daraufhin noch neugieriger und fragte, was ihn mit diesem Hintergrund am Impro-Theater reizen würde. Daraufhin entgegnete er: Improvisationstheater sei für ihn eine andere Möglichkeit zur Erforschung von chaotischen, sozialen Systemen. Heute würde man wohl eher sogar von quantenmechanischen Zusammenhängen sprechen.
Schauen wir uns das Beispiel des Improvisationstheaters also einmal ein wenig genauer an: Dort stehen Spielerinnen und Spieler auf einer leeren Bühne, das heißt sie agieren unter Unsicherheit. Sie holen sich Inspirationen und Ideen vom Publikum (Kunde/Markt) und produzieren dann die Szenen, die Figuren und Geschichten (Service/Produkt). Dabei gehen sie in mehrere Richtungen Komplizenschaften ein: Mit sich selbst, mit den Mitspielerinnen und Mitspielern sowie mit dem Publikum. Sie beobachten also sich selbst, in der Interaktion mit den anderen, in ständigem Abgleich mit den Publikumsreaktionen (Big Data at its best!). Diese Reaktionen des Publikums können entweder sehr explizit sein, indem man sich konkrete Ideen abholt oder sie können mehr oder weniger wahrnehmbar in der Luft liegen (Seufzer, Atemgeräusche, Klatschen, Jubel etc.).
Es geht beim sicheren Zusammenspiel auf der Bühne unter Unsicherheit zunächst also um eine hohe Aufmerksamkeit füreinander. Eine Aufmerksamkeit die mit Akzeptanz gekoppelt ist, d.h., alles, was als Informationen wahrgenommen wird, wird zunächst einmal als relevant und wichtig akzeptiert. Im Impro-Sprech: „Alles ist ein Angebot!“ Dies wird kombiniert durch ein zentrales Leitprinzip: „Lass die anderen gut aussehen!“ Was auch immer vom Publikum kommt – es wird als eine geniale Idee, einen brillanten Impuls gefeiert (Kunde ist König gilt hier ohne wenn und aber!). Das Gleiche gilt für die Impulse und Ideen der Mitspielerinnen und Mitspieler. So werden gesunde, humorvolle Beziehungen zueinander aufgebaut.
Nur so kann es funktionieren, dass auch die eigenen Ideen und Impulse, die daraufhin assoziiert und ausgespielt werden ihrerseits angenommen und größer gemacht werden (Yes, and!-Regel). Das Ausspielen selbst ist das vierte und letzte Element der sogenannten vier Asse der Improvisation (Aufmerksamkeit, Akzeptanz, Assoziation und Ausdruck).
Um diese vier Asses drehen sich im Wesentlichen auch alle Übungen, Spiele und Proben, die Improvisationstheaterspieler zwischen ihren Auftritten absolvieren. Die Proben und die wiederholten Auftritte sorgen dafür, dass das notwendige Vertrauen in- und füreinander entsteht, um unter Unsicherheit das sehr volatile und hochkomplexe Zusammenspiel mit all den mehrdeutigen Angeboten auf der Bühne zum Erfolg zu führen!
Was heißt das nun für eine Organisation, die psychologische Sicherheit anstrebt?
In aller Kürze:
- Schaffen sie Probenräume für Social Prototyping-Sessions
(Wie wollen wir zusammenarbeiten?
Welche Leitprinzipien und Regeln wollen wir uns dafür geben?)) - Wie steht es um die Aufmerksamkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ihrer Organisation füreinander und für die Kunden (Fühlen sie sich gesehen? Wie werden die Beziehungsebenen gepflegt?)
- Wie können die Kolleginnen und Kollegen besser/schneller in eine Akzeptanz der Umstände kommen, mit denen gearbeitet werden kann/muss? (Akzeptanz ist übrigens auch ein zentraler Resilienzfaktor!)
- Wie erhöhen Sie ihr eigenes Assoziations‑, Vorstellungs- und Imaginationsvermögen und ggf. auch das der anderen Menschen in ihrer Organisation (einen spannenden Ansatz dazu bietet u.a. die Futures Literacy)?
- Es braucht schnelle Prototypen von Lösungen, Services und Produkten, um so schnell wie möglich in Aktion, ins Doing zu kommen. Wie können sie das Aktions-Niveau, die Responsivität und Agilität (noch) erhöhen?
- Wie steht es um den Humor in ihrer Organisation? Wenn der Grad an Zynismus nicht durch die Decke gehen soll (was eher kontraproduktiv für die Angstfreiheit und psychologische Sicherheit ist), dann sollten sie viel Wert auf einen gesunden Humor legen, bei dem sich Menschen eher über ihre eigenen Verfehlungen lustig machen und somit frühzeitig Transparenz über (mögliche) Problemfelder schaffen, als dass sich über die Fehler der anderen lustig gemacht wird. Beim Impro lacht man zusammen über das gemeinsame Scheitern – und freut sich über den gemeinsamen Erfolg!
Über den Autor:
Martin A. Ciesielski ist Banker und Clown. Er arbeitet als (Team-)Coach, Berater und Trainer für angewandte und organisationale Improvisation. Er lebt und spielt in Berlin.